Wir haben Urban Explorer durch die Wiener Unterwelt begleitet | 1000things (2024)

Die Luft ist feucht und stickig. Von der Decke des Kellergewölbes hängen lange Spinnweben. Am Boden liegt eine zentimeterdicke Staubschicht, die bei jedem Schritt neu aufgewirbelt wird. Wir befinden uns irgendwo im 1. Bezirk, zirka zehn bis 15 Meter unter der Erde – über uns das Getümmel der Wiener Innenstadt. „Wir sind hier in einem dreigeschossigen Keller, dessen Ursprung auf das 17. Jahrhundert zurückzuführen ist“, erklärt uns der Historiker und Archäologe Marcello La Speranza vom Forscherteam Wiener Unterwelten. Früher hat er als Archäologe in Carnuntum gearbeitet, heute ist er Kurator der historischen Flakturm-Ausstellung Erinnern im Innern im Haus des Meeres und hat bereits mehrere Bücher über seine Arbeit veröffentlicht. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Keller unter Wien aus- beziehungsweise umgebaut, um die Wiener Bevölkerung vor Luftangriffen zu schützen, erzählt La Speranza. „Hinweis darauf geben uns zum Beispiel die alten Luftschutztüren oder die fluoreszierenden Farbsteifen an den Wänden, die als Wegweiser dienten“, sagt der Mitte-50-Jährige und leuchtet währenddessen mit seiner Taschenlampe auf einen weißen Wandstreifen, der nach kurzer Zeit grün zu leuchten beginnt. In Summe hätten die Menschen hier drei bis vier Stunden verbracht und auf Entwarnung gewartet. Die Keller wurden nicht nur von den zugehörigen Häusern genützt, sondern waren unterirdisch mit weiteren Kellern verbunden. Das sollte gewährleisten, dass mehrere Ausgänge zur Verfügung standen.

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Die Schönheit des Verfalls

La Speranzas Kollege Lukas Arnold durchkämmt währenddessen mit seiner Kamera und einem großen Schweinwerfer den stockdunklen Keller. Der junge Fotograf, er ist Mitte 20, wurde von der faszinierenden Welt der verlassenen Orte in den Bann gezogen und hält ihren Verfall ästhetisch fest. Dritter im Forscherteam-Bunde ist Stefan Andert. Seit drei Jahren erforscht das Team bereits die Wiener Unterwelten. „Unsere Hauptaufgabe sehen wir darin, vergessene Orte zu dokumentieren und zu erforschen“, so Arnold. Dass viele Luftschutzräume heute laut den beiden verfallen oder einfach zubetoniert werden, macht ihre Arbeit nicht unbedingt einfacher. Interessant sei für die klassische Stadtarchäologie hauptsächlich, was aus der Zeit der Römer stamme oder zumindest aus dem Mittelalter. Daher sieht das Trio seine Aufgabe vor allem darin, Artefakte der neueren Geschichte und Zeitgeschichte zu dokumentieren, wie zum Beispiel Kellergewölbe, Fabriken, Ruinen und Abbruchhäuser. „Bei uns brennt der Hut! Wir gehen an die Orte, die verschwinden“, merkt La Speranza an.

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Wiens unterirdisches Kellersystem

Über einen Hauskeller gelangen wir durch eine unscheinbare Türe weiter hinunter in den zweiten Stock des Kellers. Das ist keine Seltenheit, denn Wien besitzt unterirdisch ein weitläufiges und tiefes Kellersystem mit mehreren Stockwerken. Ausgestattet mit Taschenlampen, Scheinwerfern und Stirnlampen bahnen wir uns den Weg. Herausfordernd wird es, als wir durch einen kleinen aufgebrochenen Durchschlupf klettern, der uns in eine neue Kellerpassage führt. Vermutlich gehört diese nicht mehr zu dem Haus, das wir als Eingang genutzt haben. Hier scheint die Zeit still zu stehen: Unzählige Ziegelsteine, alte Betten und zerschlissene Matratzen sind nur einige der Dinge, die wir auf unserer Erkundungstour entdecken. Neben einem alten Bettgestell liegt eine leere Zigarettenpackung der Marke Memphis, die von einer dicken Staubschicht bedeckt ist. Die Dunkelheit wird nur vom Strahl der Taschenlampe durchschnitten, der auf alte Ziegelmauern trifft und eine gespenstische Atmosphäre schafft. „Hier atmet man Geschichte“, sagt der Historiker Marcello La Speranza strahlend und sieht sich begeistert im Raum um. Über eine angerostete eiserne Treppe gelangen wir schlussendlich ins dritte Untergeschoss des Kellers. „Schaut, alte Papierfetzen, auf denen noch Hinweise auf die Belegung der Schutzkeller zu lesen sind!“, freut sich La Speranza und zeigt auf kleine Stücke Papier, die im Staub liegen und mit schwarzer Frakturschrift bedruckt sind. Die Orte für ihre Entdeckungstouren findet das Team meist durch Recherche oder Hinweise. „Man braucht aber auch viel Glück. Zum Beispiel erfährt man von einem Abbruch eines Gebäudes oder Ähnlichem und schaut sich das dann an“, erklärt Arnold. Das Team gehe aber immer einen ordnungsgemäßen Weg: „Wir holen uns immer Genehmigungen, um die Orte zu erforschen. Wir klettern nicht über Zäune und betreten Grundstücke illegal“, fügt La Speranza an. Viele der sogenannten Urban Explorer würden den verlassenen Orten nicht den nötigen Respekt zollen und eher durch den „thrill of the hunt“ getrieben werden. Dabei lautet ein ungeschriebenes Gesetz innerhalb der Szene: „Take nothing but photographs, leave nothing but footprints.“ Dem Forscherteam der Wiener Unterwelten gehe es jedenfalls um historische Dokumentation und einen respektvollen Umgang mit den Objekten.

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Vergessene Luftschutzbunker

Unser nächster Weg führt uns in den 16. Bezirk. Dort angekommen, fragen wir uns, wo sich hier ein Luftschutzbunker verbergen soll. La Speranza und Arnold führen uns an einem bunten Klettergerüst und spielenden Kindern vorbei, zu einer kleinen metallenen Tür. „Hier befinden wir uns vor dem Eingang zu einem Mutter-Kind-Bunker, der während des Zweiten Weltkriegs in Verwendung war und jetzt leersteht“, erklärt La Speranza. Diese Ankündigung scheint unwirklich, da wir uns mitten auf einen Spielplatz befinden. Fakt ist: In der gesamten Stadt finden sich unscheinbare Eingänge an unvermuteten Orten, die zu öffentlichen Luftschutzbunkern führen. Als Reaktion auf die ersten Bombenangriffe auf deutsche Städte ordnete Hitler 1940 das sogenannte Führer-Sofort-Programm an. Danach wurden in mehreren Wellen solche Luftschutz-Einrichtungen errichtet. Jeder dieser Schutzräume war nach demselben Konzept gebaut: Die Bunker hatten eine Schutzraumfläche von rund 760 Quadratmeter und 44 Luftschutzkammern, die für insgesamt 300 Personen konzipiert waren. In die Anlagen waren je zwei Maschinenräume mit Schutzraumbelüftern sowie Gas- und Kampfstoff-Filtern integriert. La Speranza schätzt die Anzahl der Wiener Luftschutzbunker auf etwa 30 Stück. Einige werden heute sogar noch verwendet: Zum Beispiel wird der ehemalige Bunker am Friedrich-Schmidt-Platz als Tiefgarage des Rathauses benützt. Jener im Arne-Carlsson-Park kann sogar im Rahmen von Führungen offiziell besucht werden. Der Großsteil steht jedoch leer oder wurde zugeschüttet.

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Über den kleinen Einstieg vom Spielplatz aus geht es dann mehrere Meter über eine Treppe in den ehemaligen Luftschutzbunker. Ein feuchter und modriger Geruch schlägt uns entgegen. Die Wände reflektieren den Schein der Taschenlampe. Wir blicken in einen endlos scheinenden Flur, von dem rechts und links mehrere Räume abgehen. Sie sind nur wenige Quadratmeter groß und zum Teil mit bunten Tapeten ausgestattet. Kurz alleine gelassen mit seinem kleinen Lichtkegel, fühlt man sich hier bald unbehaglich. „Dieser Bunker wurde 1940 als öffentlicher Mutter-Kind-Bunker konzipiert. Das heißt, gegen Ende des Krieges durften hier, aufgrund polizeilicher Anweisung, ausschließlich Frauen und Kinder bis 16 Jahre sowie ältere Personen ab 65 Jahren Zuflucht suchen“, erklärt La Speranza und führt uns weiter. Er zeigt uns zwei Maschinenräume, in denen sich Überreste von Gas- und Kampfstoff-Filtern befinden. Das Setting erinnert an die Maschinenräume des Films Titanic – nach 40 Jahren unter Wasser. „Hier muss man kurbeln, um das System zu aktivieren.“ La Speranza zeigt auf eine große rostige Kurbel, die abzubrechen droht. Er führt uns weiter durch den Bunker und zeigt uns neben Waschräumen noch weitere kleine, kahle Räume, die als Schlafräume verwendet wurden.

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Nach gut einer Stunde in der Dunkelheit geht es wieder Richtung Ausgang. Zurück an der Oberfläche wirkt das Hier und Jetzt fast fremd. Um uns tummeln sich wieder Menschenmassen und spielende Kinder. Niemand ahnt, was hier unter ihren Füßen schlummert: Ein Stück Geschichte, das all jene, die es zu Gesicht bekommen, ermahnt, niemals zu vergessen, was erst ein paar Jahrzehnte zurück liegt.

Ihr habt Lust auf mehr? Wir zeigen euch nicht nur Orte, an den denen man in Wien vermutlich noch nie war, sondern führen euch auch durch unterschiedliche Wiener Filmschauplätze.

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